Aktienausblick: Jetzt sind wieder Qualität und Wachstum gefragt
- Angesichts der zunehmenden Unsicherheit sind wir der Überzeugung, dass sich Investoren jetzt auf Aktien von Qualitätsunternehmen mit robusten und steigenden Gewinnen konzentrieren sollten.
- Wir halten die Bewertungen für die besonders wachstums- und qualitätsstärksten Unternehmen wieder für vernünftig und gehen davon aus, dass die Anleiherenditen nicht mehr weiter steigen.
- Die notwendigen Investitionen in Digitalisierung, Automation und Netto-Null-Technologien sind langfristige Wachstumstreiber.
- Durch höhere Wachstumsprämien hätten diese Aktien noch mehr Potenzial.
Mit steigenden Anleiherenditen und fallenden Aktienkursen war die erste Jahreshälfte 2022 eine turbulente Zeit für Investoren. Hinzu kommt, dass sich durch die straffere Geldpolitik in Reaktion auf den Inflationsschock und ihre Auswirkungen auf das Wachstum das gesamtwirtschaftliche Basisszenario verfestigt hat.
Höhere Staatsanleiherenditen haben die KGV sinken lassen, und jetzt bestehen Bedenken, dass die Gewinne weniger stark steigen als allgemein erwartet.
Seit Jahresanfang haben der MSCI World NR und der JP Morgan Global Government Bond Index 21% und 15% verloren.1 Deshalb sorgen sich die Investoren verständlicherweise um die Entwicklung in kommenden Quartalen und fragen sich, wie sich die Markterträge entwickeln werden, nachdem die Anleiherenditen ihren Höhepunkt erreicht und sich die Aktienbewertungen normalisiert haben. Aber vor dem Hintergrund eines vermutlich schwächeren Gewinnwachstums sind wir überzeugt, dass sich Investoren auf Papiere von Qualitätsunternehmen mit robusten und stark steigenden Gewinnen konzentrieren sollten.
Der Anstieg der realen Anleiherenditen seit Ende 2021 fiel mit einem Rückgang der Aktienkurse zusammen. Zugleich haben Wachstumsaktien schlechter abgeschnitten als Substanzwerte. 2020 war es genau anders herum. Die realen Renditen fielen wegen des Ausbruchs von COVID-19 und der weiteren Lockerung der Geldpolitik.
Durch den Anstieg der Anleiherenditen hat sich der Renditeabstand zwischen Anleihen und Aktien verkleinert, mit erheblichen Folgen für die Aktien mit langer Duration. Das sind Papiere wachstumsstarker Unternehmen, die besonders sensibel auf Veränderungen des Diskontsatzes reagieren. In einem früheren Artikel haben wir die Beziehung zwischen Anleiherenditen und Aktien sowie die Wertentwicklung von Wachstums- gegenüber Substanzaktien bei steigenden Zinsen genauer untersucht.
Chancen am Aktienmarkt
Die Beziehung zwischen realen Anleiherenditen und Aktienbewertungen in der Vergangenheit ist eindeutig. In den letzten Wochen scheinen die Anleiherenditen ihren Höhepunkt erreicht zu haben, weil die Markterwartungen sich auf einen Anstieg der US-Leitzinsen auf etwa 3% in diesem Erhöhungszyklus eingependelt haben. Aus unserer Sicht entsprechen die Bewertungen von Wachstums- und Qualitätsaktien jetzt dem aktuellen Niveau der Realrenditen – nach einer enormen Anpassung. Die KGV der 20% börsennotierten Unternehmen mit dem stärksten Umsatzwachstum sind bis Juli von etwa 48 auf unter 27 gefallen (siehe Abbildung unten).2 Auch die KGV von Unternehmen, die gemessen an der Eigenkapitalrendite zu den Qualitätsaktien zählen, sind deutlich zurückgegangen.
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Aus unserer Sicht liegen die Bewertungen der „besten“ Wachstums- und Qualitätsunternehmen jetzt wieder auf ihrem vorpandemischen Niveau. Sie sind zwar nicht billig, weil ihre Bewertungen 2020 und 2021 enorm gestiegen waren, aber jetzt attraktiver als zuvor. Außerdem sehen wir angesichts des schwierigeren Umfelds für das Weltwirtschaftswachstum jetzt kaum Gründe für einen weiteren Anstieg der Realrenditen. Viel spricht deshalb dafür, dass die Neubewertung weitgehend abgeschlossen ist und sich die Märkte nun wieder auf Gewinnstabilität und Wachstum konzentrieren werden.
Auch in Europa sind die Bewertungen stark zurückgegangen. Die Anleiherenditen, die 2021 ihren Tiefststand erreicht hatten, sind gestiegen; Wachstums- und Qualitätsunternehmen haben sich unterdurchschnittlich entwickelt. Die Konjunkturaussichten für Europa sind zwar wegen des Ukrainekrieges und der Probleme an den Energiemärkten kompliziert, aber auch hier gehen wir nicht von einem weiteren Anstieg der realen Anleiherenditen aus. Sowohl in den USA als auch in Europa liegen die Renditen jetzt wieder auf ihrem vorpandemischen Niveau, und auch in puncto Auswirkungen auf die Aktienbewertungen dürfte das Schlimmste überstanden sein. Am stärksten waren Wachstums- und Qualitätsunternehmen betroffen.
Mögliche erneute Rotation
Während Wachstumsaktien unterdurchschnittlich abgeschnitten haben, erzielten Substanzwerte Mehrertrag. Diese Rotation hat unterschiedliche Facetten. Erstens waren Substanzwerte 2021 und bis ins Jahr 2022 hinein ungewöhnlich günstig. In den ersten Phasen der Pandemie und in der zweiten Jahreshälfte 2021 entwickelten sich Wachstumsaktien besser als Substanzwerte. Das konnte sich jederzeit ändern, als die Zinserwartungen stiegen und die relativen Bewertungen weit vom langfristigen Durchschnitt abwichen. Zweitens sind die Gewinne von Zyklikern schnell wieder gestiegen, als die Erholung der Weltwirtschaft von der Pandemie 2021 und Anfang 2022 Fahrt aufnahm.
Die einzelnen Sektoren haben sich unterschiedlich entwickelt, während der Markt insgesamt schwächer wurde. Im S&P 500 haben die Sektoren Finanzen, Versorger und Konsumverbrauchsgüter seit Jahresanfang weniger verloren als der Gesamtmarkt. Der Energiesektor ist sogar gestiegen.3 Angesichts der sehr niedrigen Zinsen in den Jahren 2020/2021, der lebhaften Kapitalmärkte und der hohen Kreditvergabe haben sich Finanzwerte gut entwickelt. Energieaktien profitierten von den enormen Gewinnen infolge der weltweit steigenden Energiepreise. 2022 sind am US-Aktienmarkt die KGV von Aktien aus den Sektoren IT, Konsumgebrauchsgüter und Private Dienstleistungen besonders stark zurückgegangen. Die KGV von Aktien, die eher zu den Substanzwerten zählen, also von Versorgern, Konsumverbrauchsgüteranbietern, Teilen des Pharmaziesektors und Energieunternehmen, haben sich nur wenig verändert (weniger als die Bewertung des Gesamtmarktes), und auch die Gewinnerwartungen wurden weniger stark gesenkt.
Infolgedessen haben sich Substanzwerte während des allgemeinen Marktrückgangs in der ersten Jahreshälfte 2022 besser entwickelt als Wachstumsaktien, weil ihre Bewertungen im Durchschnitt weniger stark zurückgegangen sind. Die Anpassung der Bewertungen, während zugleich die internationalen Anleiherenditen ihren Höhepunkt erreicht haben, lässt vermuten, dass von jetzt an wieder Qualitätsaktien vorn liegen werden. Bei einem Vergleich der aktuellen KGV-Erwartungen mit den Konsenserwartungen des Gewinnwachstums scheinen Sektoren wie Konsumverbrauchsgüter, Finanzen, Gesundheit und Versorger insgesamt teuer. Die Bewertung des Technologiesektors liegt danach wieder bei ihrem langfristigen Durchschnitt, obgleich hier die Erwartungen des künftigen Gewinnwachstums in den letzten Monaten bereits deutlich zurückgegangen sind.
Durch die allgemeine Marktdynamik haben die beliebtesten Aktien aus den Sektoren Technologie und Private Dienstleistungen in diesem Jahr ihre Investoren enttäuscht. Der NASDAQ Composite Index, der vor allem aus Unternehmen aus diesen Sektoren besteht, hat in diesem Jahr und seit seinem Höchststand 28% und etwa 30% verloren.4 Der Rückgang der realen Einkommen der Privathaushalte wirft Fragen auf, wie viel noch für Aktivitäten wie Online-Unterhaltung und neue digitale Geräte und Dienstleistungen ausgegeben werden kann. Aus unserer Sicht ist das aber vermutlich ein kurzfristiges Problem. Die KGV der zehn NASDAQ-Unternehmen mit der größten Marktkapitalisierung sind seit ihren Höchstständen im letzten Jahr stark gefallen, aber die Gewinnerwartungen auf Sicht von einem Jahr sind gut. Angesichts ihres stabilen langfristigen Wachstums halten wir ihre überdurchschnittlichen KGV für gerechtfertigt. Zu dieser Gruppe zählen Unternehmen wie PayPal, Adobe, Salesforce und Apple.5 Ihre KGV sind heute ungefähr so hoch wie im Februar 2020 oder niedriger, und ihre Gewinne sind seitdem gestiegen.
Stabile Prognosen
Die Gewinnprognosen für den Gesamtmarkt sind noch erheblich zu hoch und werden zurückgehen müssen. Bei Zyklikern wird das im Zusammenhang mit dem schwächeren BIP-Wachstum geschehen. Die Dynamik der Gewinnerwartungen hat nachgelassen. Das heißt, dass es mehr Abwärtsrevisionen der erwarteten Gewinne je Aktie gibt. Insgesamt belaufen sich die Schätzungen für die nächsten zwölf Monate aber noch immer auf 9% (MSCI World), 9,5% (S&P 500) und 7,6% (EuroStoxx).6 Üblicherweise geht das Gewinnwachstum bei einer schwachen oder schrumpfenden Wirtschaft zurück. Während der Rezession 2009 sind die Gewinne internationaler börsennotierter Unternehmen um bis zu 40% gefallen. Während des pandemiebedingten Abschwungs betrug der Rückgang etwa 20%.7 Nach den derzeitigen Konsensprognosen sollen die Gewinne je Aktie aller wichtigen Märkte 2023 und 2024 insgesamt steigen.
Aktienanalysten prognostizieren selten Gewinnrückgänge, aber hin und wieder tun sie es. Grundsätzlich sind die Investoren in solchen Phasen bereit, mehr für Aktien von Unternehmen zu zahlen, die ihre Gewinne vermutlich stabil halten können. Wenn große Volkswirtschaften einen normalen Konjunkturzyklus durchlaufen, weil die Zentralbanken versuchen, die Inflation einzudämmen, geraten Zykliker vermutlich unter Druck, und es gibt kaum einen Grund für einen Anstieg der Bewertungen typischer defensiver Sektoren. Auch niedrigere Anleiherenditen in Reaktion auf die Aussicht eines schwächeren Wachstums und weniger Inflation sind günstig für Aktien mit langer Duration.
Das größte Risiko ist, dass die Gewinne insgesamt zurückgehen, wenn die Weltkonjunktur nachlässt. In den letzten Rezessionen sind die Gewinne ausgehend von ihren Höchstständen um 20% bis 40% zurückgegangen. Am meisten gefährdet sind Sektoren, deren Gewinne während der allgemeinen wirtschaftlichen Erholung von der Pandemie stark gestiegen sind. Der springende Punkt ist, dass in Zeiten, in denen der Gesamtmarkt weniger stark wächst, Unternehmen mit den robustesten Gewinnen, die zugleich in der Vergangenheit stabil und stark gewachsen sind, mit einem Aufschlag gehandelt werden. Dann müssten die Bewertungen von Wachstumsunternehmen nicht noch mehr fallen.
Gewinne sind wichtig
Auch langfristige Trends sprechen für Wachstumsaktien. Die pandemiebedingten Probleme haben gezeigt, wie wichtig es ist, mehr in Technologie zu investieren und höheren Lohnkosten mit Automation entgegenzuwirken. Die erfolgreiche und schnelle Entwicklung von COVID-19-Impfstoffen durch Biotechnologieunternehmen und die Aussicht auf eine breitere Nutzung innovativer Technologien in der Gesundheitsversorgung dürften diesem Sektor aus unserer Sicht in den nächsten Jahren zugutekommen. Online-Gesundheitsversorgung und robotergestützte Operationen sind wichtige Entwicklungen im Gesundheitssektor. Sie zeigen, was Digitalisierung und Automatisierung im Bereich Private Dienstleistungen leisten können. Auch die Trends im Zusammenhang mit der Entwicklung hin zu einer Netto-Null-Wirtschaft in den nächsten Jahren sind nicht zu vernachlässigen. Hier ist von hohen Investitionen in neue Technologien und die Elektrifizierung in der Landwirtschaft und einigen Industrien auszugehen. Sie sprechen für einen langfristigen themenbezogenen Aktienansatz, bei dem vorwiegend in Unternehmen mit überdurchschnittlichem Wachstum, hohen Eigenkapitalrenditen und recht niedriger Verschuldung investiert wird.
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In Sektoren, die sich in der Phase gut entwickelt haben, in der Substanzwerte vorn lagen, sind die Gewinne stark gestiegen. Dies sind zugleich auch die Sektoren, deren Gewinne im Zeitablauf sehr konjunktursensitiv sind. In den Sektoren Energie, Finanzen, Grundstoffe und Industrie sind die durchschnittlichen Gewinne je Aktie im letzten Jahr erheblich gestiegen – entsprechend den Prognosen von Institutional Brokers’ Estimate System). Im Energiesektor des S&P 500 beispielsweise belief sich der Anstieg im gleitenden 12-Monats-Durchschnitt bis Juli 2022 auf 370%. In den Sektoren Industrie und Grundstoffe lag er bei 47% und 43,5%. Diese Wachstumsraten können nicht von Dauer sein, und aus unserer Sicht haben die Gewinne je Aktie jetzt ihren zyklischen Höhepunkt erreicht (siehe Abbildungen 2 und 3).
Die unten stehende Tabelle zeigt, dass sich die Gewinnentwicklung verändert. In puncto Stileigenschaften lagen in diesem Jahr bislang Substanzwerte, also Aktien aus Sektoren wie Energie und Grundstoffe, vorn. Von jetzt an dürften aber Wachstumsaktien erfolgreicher sein. Das steht auch im Einklang mit der besseren Langfristperformance wachstumsstarker Segmente des Aktienmarktes. Es gibt zwar keine Garantie, aber aus unserer Sicht dürfte sich das auch in den Gesamterträgen niederschlagen.
Erwartetes Wachstum der Gewinne je Aktie | 2022 | 2023 | 2024 |
MSCI US Value | 14.5% | 7.2% | 6.9% |
MSCI Growth | 5.3% | 10.7% | 10.6% |
(Quellen: IBES, S&P, Refinitiv, Stand Juli 2022)
In der Vergangenheit war das Gewinnwachstum in Sektoren wie IT, Gesundheit und bei bestimmten Private Dienstleistungen weniger volatil. Die Gewinne von Unternehmen aus diesen Bereichen sind stark gestiegen und waren weniger konjunktursensitiv. Das rechtfertigt höhere Aufschläge. Die Differenz zwischen den KGV von Technologiewerten und dem Gesamtmarkt sowie zyklischeren Sektoren wie Industrie und Finanzen ist im Laufe des letzten Jahres auf ein vernünftigeres Niveau zurückgegangen. Zurzeit ist das auf Sicht von zwölf Monaten erwartete KGV des Sektors Private Dienstleistungen, zu dem Unternehmen wie Amazon, Alphabet, Netflix, Meta Platforms, Comcast und Walt Disney gehören, niedriger als das des S&P 500 insgesamt.
Die Konjunkturaussichten sind recht trübe. Die globale Inflation steigt noch immer, die internationalen Lieferengpässe an den Energie- und Nahrungsmittelmärkten infolge des Ukrainekrieges sind noch nicht beseitigt. Aber an den Märkten hat bereits eine starke Korrektur stattgefunden, und die Rotation aus Wachstumsaktien in Substanzwerte in den letzten zwölf Monaten lässt uns über eine Vorbereitung unserer Aktienpositionierung auf eine Erholung nachdenken. Technologievorreiter, die in der Vergangenheit nachweislich hohe Gewinne erzielt haben, dürften bald wieder mit einem Aufschlag gehandelt werden, vor allem, wenn sich die Gewinnaussichten allgemein verschlechtern. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht gehen wir davon aus, dass das Ausbleiben eines weiteren Anstiegs der Anleiherenditen weitere Abwertungen von Qualitätsunternehmen mit solidem Gewinnwachstum verhindern dürfte.
Rechtliche Hinweise